Das Leben romantisieren
- Sandra Maria
- 11. März 2021
- 9 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 29. Juli
In Deutschland befinden wir uns gerade mitten in Lockdown No. 2 und es scheint kein Ende in Sicht. Etwa Mitte Dezember 2020 wurde entschieden, dass der sogenannte "Lockdown Light" zu einem harten Lockdown wird. Seitdem befinden sich die Maßnahmen und Regeln zwar in stetigem Wandel, wurden aber nie spürbar gelockert. Seit drei Monaten habe ich eigentlich nichts Anderes außer das Innere meiner vier Wände gesehen - und um ehrlich zu sein war es die Monate davor auch nicht anders. Jetzt, etwa ein Jahr nach dem ersten Ausbruch der Corona Pandemie in Deutschland gibt es noch kein Licht am Ende des Tunnels. Und das meine ich buchstäblich.
Inhalt
Sehnsucht nach Sonnenschein

Letztes Jahr um diese Zeit war es draußen warm und tagsüber hell. Im März/April verwandelte sich die karge Winterlandschaft in zarten Frühling. Die Sonne schien nahezu jeden Tag und es war so einfach jeden Tag draußen im Garten zu sein, spazieren zu gehen und damit für etwas Abwechslung in die Eintönigkeit der eigenen vier weißen Wände zu sorgen . Jetzt im März 2021 ist es draußen kalt und regnerisch. Viele Menschen sind in der dunklen Jahreszeit anfälliger für Depressionen, denn trübes Wetter und dunkle verregnete Tage schlagen aufs Gemüt [1] [2]. Das nennt man im Volksmund auch Winterblues.
Auch mich trifft dieses Jahr eine melancholische Verstimmung. Ich vermisse es mit meinen Freund*innen um ein Lagerfeuer herum zu sitzen und dabei Glühwein zu trinken. Oder mit meiner Familie Ski fahren zu gehen. Oder mit einem lieben Menschen eine große Tasse Caramel Macchiato to go zu schlürfen und dabei gemütlich durch die Innenstadt zu schlendern. In dieser Zeit melancholisch-nostalgisch verstimmt zu sein ist schwieriger als all die Jahre zuvor. Denn jetzt bin ich nur zu Hause in meinen vier Wänden und alleine. Die ganze Zeit.
Das Gefühl, etwas zu verpassen

Eigentlich bin ich ziemlich gut darin allein zu sein. Das mag daran liegen, dass ich introvertiert bin und meine Energie daraus schöpfe allein zu sein. Ich fühle mich nicht so schnell einsam und bin auch eher selten gelangweilt wenn ich Zeit ohne andere Menschen verbringe. Insgeheim mag ich die kalte Jahreszeit sogar ein bisschen. Bei schlechtem Wetter hatte ich bisher immer die perfekte Ausrede zuhause zu bleiben, an kreativen Projekten zu arbeiten oder das ganze Wochenende zu kochen und zu backen. Ich genieße es meine sozialen Batterien in der kalten Jahreszeit aufzuladen. Jetzt jedoch sind meine Batterien übervoll geladen und sogar ich als Introvertierte vermisse soziale Gruppenaktivitäten, lautes Lachen und Hauspartys.
Jetzt jedoch sind meine Batterien übervoll geladen und sogar ich als Introvertierte vermisse soziale Gruppenaktivitäten, lautes Lachen und Hauspartys.
Ich habe stark das Gefühl etwas zu verpassen. Ich schätze das nennt man auch FOMO. [3] Ich bin Mitte 20 und sollte jetzt die Zeit meines Lebens in der Hauptstadt als Studentin erleben. Stattdessen habe ich das Gefühl, dass ich wertvolle Lebensmomente verpasse während ich irgendwo auf dem Land in Bayern versauere. Immernoch in der Erwartung auf eine Normalität, die vielleicht nie in unseren Alltag zurückkehren wird.
Tage im Erinnerungsnebel

Für mich besteht der Sinn des Lebens vor allem darin Erinnerungen mit anderen Menschen zu schaffen, die uns ein Leben lang im Kopf bleiben. Momente, an die wir uns noch mit 93 glasklar erinnern und sie dann lachend unseren Enkeln zum 115. mal erzählen. Augenblicke, die uns prägen und die für uns persönlich besonders sind.
In den vergangenen Wochen war genau das schwierig für mich. Erinnerungen jedweder Art zu schaffen wurde zu einer anstrengenden Aufgabe. Jeder Tag fühlte sich auf eine seltsam quälende Art und Weise gleich an.
Jeder Tag fühlte sich auf eine seltsam quälende Art und Weise gleich an.
Die Tage in dieser Zeit verschwimmen im Rückblick wie milchig zähe Flüssigkeit ineinander. Ich weiß noch wie es mir zunehmend schwerer fiel einzelne Wochentage zu unterscheiden. Ist es Montag? Oder schon Freitag? Damit wurde es dann auch schwerer die von mir geliebten kleinen Alltagsmomente gedanklich zu erkennen. Eigentlich fühlte ich mich generell geistig abwesend in dieser grau gefärbten Zeit. Das zeigt sich vermutlich auch darin, dass ich kaum Erinnerungen daran habe, was ich überhaupt in dieser Phase gemacht habe.
Vor der Corona-Pandemie war ich stetig auf Achse. Ununterbrochen unterwegs irgendwo zwischen der aufregenden Großstadt Berlin, wo ich studiere und der ruhigen Stadt nah den Bergen, meiner Heimat München. Ich nutzte jede Gelegenheit, Sommer wie Winter, um Museen, Kunst, Berge und Natur zu erleben. Dabei ging es mir nicht nur um die großen Highlights, von denen ich oft auch hier auf meinem Blog berichte. Mich fasziniert das Rauschen der Bäume, wenn ich kilometerlang auf sich schlängelnden Waldwegen zu einem Gipfel hin wandere, komplett die Zeit vergesse und dabei trotzdem völlig bei mir bin. Und dann das Gefühl wenn ich den Waldweg verlasse, hinaus trete in das helle Licht als würde ich eine völlig andere Welt betreten. Völlig übermüdet vom Erlebten eine Tasse Kaffee im Van zubereiten, um dann die ersten Sonnenstrahlen über der Stadt zu sehen oder den Sonnenuntergang zusammen mit den liebsten Menschen genießen. Mit geschlossenen Augen zu einem Heartbreak Song von Taylor Swift eine Solo Dance Party bei mir zuhause veranstalten. Diese kleinen Momente geben mir Energie und erfüllen mich.
Für mich ging es immer um diese kleinen Dinge - aber als die großen Momente im letzten Jahr verschwanden, begannen auch die kleinen Momente langsam zu verschwinden.
Für mich ging es immer um diese kleinen Dinge - aber als die großen Momente im letzten Jahr verschwanden, begannen auch die kleinen Momente langsam zu verschwinden.
Eine Lektion von Generation Z
Irgendwann, inmitten von Lockdown-Langeweile und Home-Office-Frustration bin ich auf die App "Tiktok" gestoßen. Dabei bin ich auf folgenden Sound von Ashley Ward aufmerksam geworden: "You have to start romanticizing your life, you have to start thinking of yourself as the main character, "cause if you don't, life will continue to pass you by, and all the little things that make it so beautiful will continue to go unnoticed, so take a second and look around..." - Ashlaward

"You have to start romanticizing your life, you have to start thinking of yourself as the main character, "cause if you don't, life will continue to pass you by, and all the little things that make it so beautiful will continue to go unnoticed, so take a second and look around..." - Ashlaward
Zu diesem Video wählen Tiktok-Creator Clips von sich selbst wie sie durch den Regen tanzen, lachen mit ihren Freund*innen, spielen liebevoll mit ihren Haustieren oder springen freudig barfuß über knöchelhohes Gras. Klar, es ist möglich, dass dieser Sound nur dazu dient das eigene "perfekte" Leben in den sozialen Medien mit den besten Ausschnitten zur Schau zu stellen. Die Aussage von Ashley Ward bleibt aus meiner Sicht aber wichtig und richtig. Pandemie hin oder her - wir sollten unser eigenes Leben romantisieren!
Pandemie hin oder her - wir sollten unser eigenes Leben romantisieren! Wir sollten der Hauptcharakter in unserem eigenen Leben sein. Und wir sollten defintiv den kleinen Dingen in unserem Leben mehr Aufmerksamkeit schenken und versuchen sie bewusst und achtsam zu erleben. Denn letztlich ist es das, was das Leben so wunderschön macht.
Wir sollten der Hauptcharakter in unserem eigenen Leben sein. Und wir sollten defintiv den kleinen Dingen in unserem Leben mehr Aufmerksamkeit schenken und versuchen sie bewusst und achtsam zu erleben. Denn letztlich ist es das, was das Leben so wunderschön macht.
Wie ich mein Leben romantisiere
Nur weil alle Restaurants, Geschäfte und Clubs geschlossen sind, heißt das nicht, dass wir nicht trotzdem wunderschöne Erinnerungen mit unseren Liebsten schaffen können. Deshalb: Macht Pläne mit euch selbst, die nicht an ein spezifisches Datum gebunden sind, notiert sie euch aber trotzdem fest im Kalender. Bei mir im Kalender stehen zum Beispiel Filmabende, Wellness-Tage und eine Spritztour zum örtlichen McDonalds um dort ein McFlurry mit Pommes auf dem Parkplatz zu snacken während ich die Regentropfen auf der Windschutzscheibe beobachte.
An einem Nachmittag habe ich mir meine Lieblingsblumen gekauft und mein Zimmer neu dekoriert. Den nächsten Tag habe ich mich in der Hauseinfahrt meiner Eltern auf den Asphalt hingelegt während dicke Regentropfen in Massen auf mich niederprasselte. Ein atemberaubend befreiendes Gefühl.

"You gotta start romanticizing your life. You gotta start believing that your morning is cute and fun, that every cup of coffee is the best you've ever had, that even the smallest and most mundane things are exciting and new. You have to, because that's when you truly start living. That's when you look forward to every day." - Unknown
All diese verrückten Mini-Abenteuer haben mir so viel Freude im Alltag bereitet. Ich denke, dass ich nun verstanden habe, was gemeint ist, wenn Generation Z davon spricht, dass wir das Leben "romantisieren" sollen. Es geht um die alltäglichsten Aufgaben, die langweiligen Sachen, die du jeden einzelnen Tag sowieso erledigst. Aktuell können wir nicht eben mal weg fahren an einen sonnigeren Ort oder eine Nacht am Strand mit Freund*innen durchtanzen. Deshalb ist es umso wichtiger in diesen dunklen Zeiten der Pandemie ein bisschen extra Anstrengung investieren, um diese kleinen, alltäglichen Dinge ein bisschen schöner, spannender und lustiger zu machen. Ich bin überzeugt, dass wir es auch im Alltag schaffen können, dass sich jeder Moment besonders anfühlt.
Ja klar, es ist ein bisschen absurd, dass manche Menschen heutzutage zwei Stunden damit verbringen ihr Frühstücksporridge mit allerlei Früchten und Details aufzuhübschen nur um dann ein perfektes Bild davon auf Instagram zu posten. Das ist nicht das bisschen extra Anstrengung und Aufmerksamkeit von dem ich spreche. Aber mal ganz grundsätzlich gefragt: Was ist so falsch an dem Wunsch und dem Bedürfnis, dass unser Frühstücksporridge hübsch aussieht? Poste das Bild doch einfach, wenn du willst! Kleb es in dein Scrapbook oder verwahre es in deinem Tagebuch sodass du darüber lachen kannst wenn du älter bist... Und unter Umständen, wenn du super hungrig bist, vergiss das Foto und genieße direkt dein Frühstück. Wenn dieses hübsche Frühstücksporridge dir ein Lächeln in dein Gesicht gezaubert hat oder dich ein klitzekleines Bisschen besser hat fühlen lassen, dann ist das doch gut!
Lass uns funkelnde Lichterketten aufhängen, auch wenn wir noch weit entfernt sind von der Weihnachtszeit. Lass uns Duftkerzen ohne besonderen Anlass jeden Abend anzünden. Lass uns ein Schloss aus Decken und Kissen bauen, einfach nur damit wir uns darin beim Lesen in andere Welten träumen können.
Mit diesem Gedanken im Kopf begann ich die klitzekleinsten Dinge in meinem Leben zu romantisieren. Dinge wie eine Tasse Kaffee morgens bei eisigen -10 Grad auf meinem Berliner Stadtbalkon trinken oder einfach mal alles stehen und liegen lassen um 5 Minuten lang die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht tanzen zu spüren nachdem der Regen aufgehört hat. Einen Frühlingstag, an dem es stärker regnete, habe ich mir spontan für meinen alltäglichen Spaziergang meine uralten rot-karierten Gummistiefel geschnappt und bin von Pfütze zu Pfütze gesprungen, ganz so wie ich es einst in Kindertagen mit den Nachbarskindern gemacht habe.
Die Clubs sind zwar weiterhin geschlossen, aber die Solo-Dance-Parties zu Taylor Swift Songs in meinem Apartment steigen seit diesem Lockdown regelmäßig. In dieser Zeit habe ich wohl gelernt, dass ich entgegen meiner Erziehung auf dem Land in Bayern keinen f*** darauf geben sollte, was die Nachbarn denken. Es macht mich glücklich das zu leben. Ich habe ohne Anlass einen Teig für Kekse angerührt um ihn gemütlich auf dem Sofa in Kombination mit einer heißen Tasse Schokolade zu löffeln. Wahrscheinlich habe ich auch meine Wasserkosten ordentlich in die Höhe getrieben und das Sortiment von Badekugeln bei Lush mehr als nur einmal durchprobiert, denn ich habe wirklich oft gebadet. Und nie bin ich in diesem Lockdown bisher ohne Dessert am Abend schlafen gegangen. Weil ich's kann.
Ankommen im Hier und Jetzt
Mein Punkt ist: Wir sollten alle mehr das machen was uns glücklich macht. Immer. Und ich weiß das ist in letzter Zeit echt schwierig geworden, weil die offensichtlichen Entscheidungen zu dem, was uns Freude bringt, nun nicht mehr zur freien Auswahl stehen. Aber eigentlich heißt das nur, dass wir kreativer werden dürfen und die kleinen Dinge umso mehr romantisieren müssen. Diesen kleinen Dingen mehr Bedeutung beizumessen kann heißen, dass wir die Dinge, die vielleicht auf den ersten Blick nicht so spaßig wirken, in etwas verwandeln, dass zu unserer Lieblingserinnerung werden kann. Zu der Erinnerung, die wir noch mit 93 Jahren unseren Enkelkindern erzählen. Das Leben romantisieren bedeutet auch, dass wir den kleinen Dingen, die um uns herum passieren mehr Aufmerksamkeit schenken. Es bedeutet den vollständig im Hier und Jetzt zu erleben und die Gedanken über morgen, heute Abend, nächste Woche einfach mal auszusperren. Du weißt nicht was in der Zukunft mit dir und in dieser Welt passieren wird. Und wenn du das nicht weißt und es daher auch nicht ändern kannst, warum solltest du deine Zeit damit verschwenden, dir darüber Sorgen zu machen?
Fokusssiere dich auf das Jetzt, auf diesen Moment und sauge ihn vollständig in dich auf. Wenn du das machst, so bin ich sicher, wirst du jeden Tag etwas Neues, Aufregendes und Wunderschönes in deinem Alltag entdecken.
[1] Baumann, Pierre (Hg.) (1993). Biologische Psychiatrie der Gegenwart. Vienna: Springer Vienna.
[2] Lacoste, V. (1993). Vitamin D, Winterschlaf und Winterdepression. In: Pierre Baumann (Hg.): Biologische Psychiatrie der Gegenwart. Vienna: Springer Vienna, S. 272–274.
[3] Stangl, W. (2021). Fear Of Missing Out – FOMO (Stangl, 2021). Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik. Verfügbar unter: https://lexikon.stangl.eu/17010/fear-of-missing-out-fomo
[4] Ward, A. (2020). New words, same background song. What are your small moments? Tiktok. Verfügbar unter: https://vm.tiktok.com/ZMdtgdnKn/
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