Zwischen Heilung und Hashtags: Wenn Therapieworte ihre Bedeutung verlieren
- Sandra Maria
- 15. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 7 Tagen
💭 „Healed enough to walk away, human enough to wish you’d caught up.“
Solche Sätze berühren uns. Sie klingen poetisch, sie tragen Wahrheit in sich. Und doch: Wenn wir genau hinsehen, kippen viele dieser „therapy soundbites“ irgendwann von hilfreich zu hinderlich.
Die Kunst der Worte – und ihre Schattenseiten
Sprache kann heilen. Worte können Türen öffnen. Worte können Dinge benennen, für die wir sonst keine Sprache hatten. Begriffe wie „Trigger“, „Trauma“, „Grenzen setzen“ oder „Protecting my peace“ haben vielen Menschen geholfen, sich selbst besser zu verstehen.
Doch was passiert, wenn diese Worte aus dem therapeutischen Kontext gelöst und zu Schlagwörtern im Instagram-Karussell werden? Wenn sie nicht mehr Werkzeuge sind, sondern Waffen?
Das ist ist individualistischer Egoismus im Gewand von Selbstfürsorge.
Statt Verbindung zu schaffen, nutzen wir Sprache plötzlich, um uns abzuschotten. „Grenzen“ werden zu Mauern, „Self-Care“ zur Ausrede, „Trauma“ zum Etikett für jede Unannehmlichkeit.
Ich erinnere mich an meinen letzten Geburtstag: Eine Freundin sagte mit der Begründung „kein Bock“ kurzfristig ab und erwartete anschließend von mir sogar Lob dafür, dass sie so „ehrlich“ ihre Grenzen gesetzt hatte. Als Psychologin höre ich diese Argumentation immer öfter: Rückzug oder Desinteresse werden als gesunde Selbstfürsorge etikettiert. Aber ist das wirklich Selbstfürsorge oder schlicht Verantwortungslosigkeit?
„Protecting your peace/energy“ klingt schön, aber Frieden entsteht nicht nur durch Rückzug. Jeder möchte ein „Dorf“ haben, das trägt. Doch kaum jemand will selbst Dorfbewohner*in sein. Grenzen setzen bedeutet nicht, anderen die Hand zu verweigern. Gesunde Grenzen sind relational. Sie schaffen Nähe UND Schutz.
Psychologischer Einschub: In der Bindungstheorie (Bowlby, 1988) wird betont, dass Autonomie und Verbundenheit keine Gegensätze sind, sondern einander brauchen. Wer Grenzen nur als Mittel der Abschottung versteht, verliert den Kern von Beziehung: Gegenseitigkeit. In der klinischen Psychologie gilt: Sprache strukturiert unsere Realität (Beck, 1976). Wenn komplexe Begriffe vereinfacht werden, verlieren sie ihre Funktion. „Trigger“ ist z. B. ursprünglich ein klar definierter Begriff in der Traumatherapie. Online wird er jedoch oft inflationär für jedes Unbehagen genutzt. Dadurch verschwimmen Bedeutungen und die Ernsthaftigkeit echter Traumata wird relativiert.
Instagram-Soundbites statt psychologischer Nuancen
Die Psyche ist komplex. Heilung ist verschlungen, widersprüchlich, nicht linear. Doch im Netz reduziert sich das alles oft auf hübsch designte Einzeiler.
Komplexe psychische Konzepte werden zu Instagram-tauglichen Schlagzeilen eingedampft.
Ich gebe zu: Auch ich habe mich manchmal an solchen Sätzen festgehalten. Weil sie leicht verdaulich sind. Weil sie Hoffnung geben in Momenten, in denen ich eigentlich zu müde für tiefere Arbeit war. Und ja: Manchmal sind sie ein Türöffner, eine kleine Erinnerung, dass ich nicht allein bin.
Aber: Sie ersetzen nicht die Arbeit, die danach kommt. Sie sind wie ein Post-it auf dem Spiegel. Sie ersetzen keine Therapie. Schön fürs Herz, aber nicht ausreichend für die Seele.
Trauma, Bindungsstile, Resilienz: Alles wird auf Slogans eingedampft, die Likes bringen sollen. Das Problem dabei ist, dass die Nuancen verloren gehen. Und damit auch das Verständnis, dass Heilung anstrengende, manchmal unbequeme Arbeit ist.
Wenn Heilung zur Perfektion wird
Was bleibt, ist oft Druck.
Es entstehen Schamspiralen statt echtes Wachstum.
Ich kenne das Gefühl gut. Wenn ich nach Jahren voller Meditation und Journaling nun doch wieder eine Panikattacke bekomme: Habe ich dann versagt? Wenn ich es nicht schaffe, meine „Boundaries“ so klar zu formulieren, wie Instagram es vormacht: Bin ich dann ungesund?
Es gibt Phasen, in denen mich diese Gedanken selbst eingeholt haben. Ich habe mich gefragt, ob ich etwas falsch mache, weil meine Heilung nicht so linear aussah wie in den Posts, die ich gespeichert hatte. Dabei vergaß ich: Heilung ist kein Lifestyle-Projekt, sondern ein zutiefst menschlicher, unordentlicher Prozess.
Psychologischer Einschub: Forschung zeigt, dass überhöhte Heilungserwartungen Scham verstärken können (Tangney & Dearing, 2002). Wenn Heilung zum Leistungsideal wird, entsteht Druck statt Selbstmitgefühl, Geduld und echter Beziehung.
Performative Wellness – und was echte Arbeit wäre
Es ersetzt echte therapeutische Arbeit durch performative Wellness.
Ich erinnere mich an Zeiten, in denen ich dachte: Wenn ich nur genug Selfcare mache, dann wird es mir besser gehen. Also habe ich mein Journal hübsch gestaltet, meine Morgenroutine dokumentiert, Kerzen angezündet und Fotos von meinem Tee gemacht. Es sah aus wie Heilung fühlte sich aber leer an.
Selfcare wurde zum Projekt, das man abhaken und posten konnte. Doch die eigentliche Arbeit: Das ist das Aushalten von Stille, das ehrliche Hinschauen. Das sind manchmal Tränen, Wut oder Leere. Und das fand dort nicht statt.
Echte Heilung passiert selten in ästhetischen Rahmen. Sie ist roh. Sie ist manchmal hässlich. Sie braucht echte Begegnung, verletzliche Gespräche, professionelle Begleitung und nicht nur die richtigen Quotes im Feed.
Die Pathologisierung des Alltäglichen
Es macht aus jeder normalen menschlichen Erfahrung eine Pathologie.
Ich habe es selbst bei mir und bei anderen beobachtet: Eine Reaktion auf einen Streit wird sofort als „Trauma Response“ gelabelt. Rückzug als „Avoidant Attachment“. Traurigkeit als „Depression“.
Natürlich ist Sprache ein Geschenk. Sie hilft uns, Leiden zu benennen und sie schafft Verbundenheit. Aber manchmal ist Wut einfach Wut. Manchmal ist Rückzug schlicht Selbstschutz. Nicht alles braucht ein klinisches Etikett.
Manchmal habe ich mich selbst dabei ertappt, wie ich mich hinter Diagnosen oder Konzepten versteckt habe. Es gab eine Sicherheit darin, alles einordnen zu können. Doch gleichzeitig habe ich gemerkt: Wenn wir jedes Gefühl pathologisieren, verlieren wir die Fähigkeit, das Menschliche auszuhalten.
Psychologischer Einschub: Die Gefahr liegt in der Überpathologisierung. Wenn wir jedes alltägliche Erleben mit klinischen Labels versehen, verlieren wir die Fähigkeit, Ambivalenz zu ertragen. Doch genau das, also im Unbehagen zu bleiben, ohne es sofort wegzuerklären,ist zentral für psychische Resilienz (Bonanno, 2004).
Persönliche Gedanken
Ich kenne diese Sehnsucht nach den richtigen Worten. Gerade als Psychologin (und als Mensch mit ADHS) haben mir Begriffe wie „Rejection Sensitivity“ geholfen, mich selbst besser zu verstehen. Aber ich kenne auch den Punkt, an dem Worte zur Falle werden: Wenn ich mich hinter ihnen verstecke, statt mich dem echten Gefühl, der echten Beziehung zu stellen.
Heilung ist nicht das perfekte Vokabular. Heilung ist das Stolpern, das Wiederaufstehen, das Reden ohne die richtigen Worte.
Was ich mir wünsche: Dass wir wieder lernen, Nuancen zuzulassen. Dass wir nicht jedes Gefühl pathologisieren, sondern fühlen dürfen. Dass wir Therapieworte nutzen, ohne sie zu entwerten.
Heilung heißt nicht, immer das richtige Label zu finden. Heilung heißt, sich als Mensch zu zeigen. Unordentlich. Widersprüchlich. ECHT.











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