Festhalten, bis das Hirn still steht – ADHS & Sexualität mit all ihren leisen und wilden Seiten
- Sandra Maria
- 10. Okt. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 4 Tagen
Eine Liebeserklärung an das Chaos
ADHS ist nicht sexy. Also, nicht immer. Nicht, wenn dein Nervensystem beim Sex die Einkaufsliste durchgeht. Nicht, wenn sich dein ganzer Körper auf Nähe freut und dann bei der kleinsten Berührung plötzlich alles zu viel ist. Nicht, wenn dein Hirn nach Dopamin schreit und dein Herz sich nach Sicherheit sehnt.
Und doch ist ADHS auf eine ganz eigene Weise sinnlich. Impulsiv. Intensiv. Wild. Es kann Nähe in einer Tiefe ermöglichen, die fast schon magisch ist. Aber nur dann, wenn man sich erlaubt, sie in der eigenen Sprache zu leben.
Sinnlichkeit mit Nebenwirkungen: Warum Reize so schnell zu viel werden
Menschen mit ADHS sind oft reizoffen. Und genau das wird im sexuellen Kontext zum Drahtseilakt. Was sich eben noch schön anfühlte, kippt innerhalb von Sekunden in Überstimulation. Das Nervensystem ist voll. Es gibt keinen Puffer mehr. Und obwohl das Bedürfnis nach Nähe da ist, schreit der Körper: „Stopp!“
Sexuelle Interaktion ist für Menschen mit ADHS oft nicht nur eine Frage von Lust, sondern von sensorischer Belastbarkeit. Gerüche, Stimmen, Stoffe auf der Haut: Was gestern noch „Wow“ war, ist heute ein Overload. Reizüberflutung führt nicht selten dazu, dass man selbst beim Kuscheln denkt: „Bitte keine weitere Berührung.“ Nicht, weil man keine Nähe will, sondern weil das System dichtmacht.
Was für andere nach Rückzug aussieht, ist für mich oft pure Reizüberflutung. Nicht, weil ich keine Nähe will, sondern weil mein Nervensystem gerade keine Kapazität mehr hat, dich zu spüren.
Studien zeigen, dass viele Menschen mit ADHS eine erhöhte sensorische Empfindlichkeit aufweisen, etwa gegenüber Geräuschen oder Berührungen (Bijlenga et al., 2017). In Momenten von Überstimulation reagiert das System dann eher mit Abwehr als mit Lust. Nicht, weil der Wunsch nach Nähe fehlt, sondern weil das Nervensystem Schutz braucht.
Für viele Betroffene ist das schwer zu erklären und für Partner:innen oft schwer zu verstehen. Intimität fühlt sich dann nicht wie Verbindung an, sondern wie eine Reizdusche ohne Regler.
Intimität fühlt sich dann nicht wie Verbindung an, sondern wie eine Reizdusche ohne Regler.
Dopamin first, then maybe feelings
Anfang meiner 20er war Sexualität für mich oft eine Form von Selbstregulation. Ich suchte Nähe, Intensität, ein Ventil für das Chaos in mir. Und manchmal war es einfach ein Dopamin-Kick. Plötzliche Lustgefühle, spontane Initiierung von Sex, auch außerhalb von Beziehungen. Nicht weil ich „zu viel“ war, sondern weil mein Nervensystem dringend einen Anker brauchte.
Ich habe gelernt, dass mein Bedürfnis nach Abwechslung, Spannung oder auch nach sexueller Nähe oft nicht einfach nur „spontan“ ist. Es kann der Ausdruck eines Systems sein, das ständig auf der Suche nach Stimulation ist, weil es neurobiologisch gesehen schlicht weniger Dopamin bekommt als andere Gehirne.
Studien zeigen, dass ADHS mit einer veränderten Belohnungsverarbeitung einhergeht (Volkow et al., 2009), wodurch viele Betroffene schneller von Routinen gelangweilt sind und unmittelbare Bedürfnisbefriedigung suchen. Sei es in Form von Sinneseindrücken, Aufmerksamkeit oder Körperkontakt. Gleichzeitig fällt es schwerer, Bedürfnisse langfristig zu regulieren (Barkley, 2015), was sich besonders in engen Beziehungen zeigen kann. Zum Beispiel, wenn ein Impuls über Nacht über das Bedürfnis nach emotionalem Kontakt hinwegrollt.
Heute weiß ich: Sexualität war für mich oft ein Weg, emotionale Spannungen zu regulieren. Erst mit Vertrauen, Langsamkeit und der Erlaubnis, „anders“ sein zu dürfen, konnte ich lernen, was Sexualität für mich eigentlich bedeutet. Jenseits von Impuls und Erwartung.
Die große Müdigkeit: Wenn Unlust kein Desinteresse ist
In vielen Paaren mit ADHS-Anteil entsteht früher oder später der Konflikt um „Unlust“. Meist geht es gar nicht um zu wenig Liebe, sondern um zwei Körper, die unterschiedlich auf Nähe reagieren. Unterschiedliche Erregungskurven treffen aufeinander: Der eine braucht Zeit, Vorbereitung, emotionale Sicherheit. Der andere reagiert spontan auf Reize und ist enttäuscht, wenn die Lust nicht erwidert wird.
Was wie „Unvereinbarkeit“ wirkt, ist oft einfach mangelndes Wissen über eigene und gegenseitige Bedürfnisse. Normen, wie Lust „auszusehen“ hat, funktionieren hier nicht.
Je besser man versteht, wie ADHS das Verhalten beeinflusst, desto klarer wird, warum Sexualität und Beziehung oft zu Missverständnissen führen – selbst wenn beide es gut meinen.
Weniger wild, mehr sensibel – ADHS, Reife und sexuelles Erleben
Ich bin inzwischen Ende 20 und ich merke, dass sich mein sexuelles Erleben verändert. Die Impulsivität ist weniger geworden, aber die Unaufmerksamkeit ist geblieben. Ich schweife schneller ab, verliere mich in Gedanken, auch im Bett. Während ich früher mit Reizen regelrecht überrollt wurde, merke ich heute: Ich brauche mehr Zeit. Mehr Entschleunigung. Mehr mentale Ruhe, um meinen Körper überhaupt wahrzunehmen.
Studien zeigen: Mit zunehmendem Alter nimmt die Hyperaktivität bei ADHS meist ab. Die Unaufmerksamkeit bleibt oder verstärkt sich (Barkley, 2015). Das beeinflusst natürlich auch Sexualität: Der Körper braucht mehr Einstimmung, der Kopf mehr Klarheit.
Wenn Dopamin verschwindet: Die Gefahr der Entfremdung
Die Balzphase mit ADHS ist ein Rausch. Alles ist neu, aufregend, voller Reize. Also ideal für das dopaminhungrige ADHS-Gehirn. Doch irgendwann sinkt das Dopaminlevel, der Zauber weicht der Alltagsroutine. Plötzlich fühlt sich der andere Mensch „fern“ an und das obwohl sich gar nichts verändert hat.
Was wir oft als Rückzug erleben, ist manchmal einfach nur das Ende der neurochemischen Hochphase – und der Beginn von echter, ruhigerer Verbindung.
Aber wenn dieser Wandel nicht verstanden wird, kommt es schnell zu Missverständnissen. Der eine fühlt sich ungeliebt, der andere überfordert von Erwartungen, die er nicht mehr erfüllen kann.
Was Paare wissen sollten – jenseits von Diagnosen
Es gibt keine allgemeingültige Definition von Lust – insbesondere nicht für ADHS-Gehirne.
Was bei anderen funktioniert (romantisches Date → Sex → Glück), kann für neurodivergente Menschen das Gegenteil auslösen: Reizüberflutung, Erschöpfung, Rückzug.
Zwei verschiedene Erregungskurven sind nicht das Problem – solange beide sich darüber bewusst sind.
Sicherheit und Vertrauen sind nicht „nice to have“ – sie sind Voraussetzung, damit ADHS-Gehirne Nähe zulassen können.
🫶 Was helfen kann
Verständnis statt Urteil: Wissen über ADHS-Verhalten verändert den Blick. Das Gegenüber meint es nicht „schlecht“ – das System funktioniert einfach anders.
Kommunikation auf Augenhöhe: Was brauche ich, um Nähe zuzulassen? Was bedeutet Intimität für mich?
Sensorische Vorbereitung: Licht, Temperatur, Kleidung – das beeinflusst, ob Nähe angenehm oder überfordernd ist.
Langsamkeit & Rituale: Nicht alles muss spontan sein. Geplante Nähe kann genauso schön – und oft entspannter – sein.
Psychoedukation & Sexualtherapie: Fachleute wie Dr. Ari Tuckman oder Jessica McCabe liefern fundierte Inhalte. Auch sexualtherapeutische Begleitung mit ADHS-Schwerpunkt kann helfen, neue Wege zur Lust zu finden.
📚 Literaturhinweise für andere Psychologie Nerds
Barkley, R. A. (2015). Attention-deficit hyperactivity disorder: A handbook for diagnosis and treatment (4th ed.). New York: Guilford Press.
Bijlenga, D., Tjon-Ka-Jie, J. Y., Schuijers, F., & Kooij, J. J. (2017). Atypical sensory profiles as core features of adult ADHD. Frontiers in Psychiatry, 8, 137.
Volkow, N. D., Wang, G.-J., Kollins, S. H., Wigal, T. L., Newcorn, J. H., Telang, F., ... & Swanson, J. M. (2009). Evaluating dopamine reward pathway in ADHD: Clinical implications. JAMA, 302(10), 1084–1091. https://doi.org/10.1001/jama.2009.1308
Tuckman, A. (2012). More Attention, Less Deficit – Success Strategies for Adults with ADHD.










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